BISS-Ausgabe April 2024 | Klein und Groß

Cover des BISS-Magazins Mai 2024

Inhalt | Klein und doch ganz groß | Das Leben scheint manchmal nicht gerecht, von den Kleinen Riesen können wir lernen, dennoch damit umzugehen | 6 Graffiti in München: Ein bunter Schrei nach Liebe | 12 12 Schluss mit lustig! Timur Vermes im Interview | 18 Die Kleinen Riesen: Kinder-Palliativdienst der Kinderklinik Schwabing | 22 Karla 51: Einmal klopfen reicht | SCHREIBWERKSTATT| 5 Wie ich wohne | 26 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 28 Patenuhren | 29 Freunde und Gönner | 30 Impressum, Mein Projekt | 31 Adressen

Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Protokoll ANNELIESE WELTHER

Foto MARTIN FENGEL

Die Beschenkte

„Ich habe eine Überraschung für dich!“, lauteten die Worte meiner Betreuerin vom Jobcenter. Wir trafen uns vor Ort, die Räume waren noch ganz leer, sie umarmte mich und ich fing an zu weinen, denn ich konnte mein Glück nicht fassen. Das Einzimmerappartement, in das ich damals einziehen durfte, liegt in einem Mehrfamilienhaus im Münchner Stadtteil Milbertshofen, ist hell und gut in Schuss. Es hat ein Bad mit Fenster und einen kleinen Flur, der in ein großes Zimmer führt. Mittlerweile habe ich mir einen Tisch mit Stühlen, einen Kleiderschrank, Teppiche, einen Fernseher und ein Schlafsofa gekauft. Zudem habe ich ein zusammenklappbares Bett für meinen Sohn, der auf Baustellen arbeitet und immer mal wieder vorbeikommt. Er ist jung und will, im Gegensatz zu mir, immer was in der Stadt unternehmen. Auch braucht er viel zu essen, da kommt meine Küchenzeile, die mir das Jobcenter eingebaut hat, so richtig zum Einsatz. Für mich selbst bereite ich nur kleine Portionen zu. So viel muss ich gar nicht kochen, denn an meinen Verkaufsplätzen vor zwei Bioläden und einem Wochenmarkt werde ich oft verköstigt, kriege Kaffee, Tee, aber auch richtige Mahlzeiten und Päckchen mit Wurst oder Eiern. Ich bin in einem rumänischen Kinderheim aufgewachsen, schlief dort mit bis zu 40 Kindern in einem Saal. An diese Zeit erinnere ich mich ungern, denn es gab viel Prügel. Jedoch half ich in den Sommerferien einer Bauernfamilie bei der Kartoffel- und Heuernte sowie bei allem, was auf dem Hof anfiel. Ich hatte ein eigenes Zimmer und fühlte mich, auch wenn ich von morgens bis abends arbeiten musste, wie eine Prinzessin. Kurz bevor die Schule losging, stattete die Familie mich mit Schulsachen und Kleidern aus. Selbst unterm Jahr brachte sie mir Pakete mit Sülze, Schinken oder Käse. Diese Leute waren so gut zu mir, sie erklärten mir nicht nur, wie man die Arbeit verrichtet, sondern gaben mir auch nützliche Ratschläge fürs Leben, vermittelten mir Umgangsformen und brachten mir bei, mich für alles, was ich bekomme, zu bedanken. Für meine Wohnung bin ich sehr dankbar, denn ich weiß, was es bedeutet, auf der Straße zu leben. Nach meiner Zeit im Kinderheim arbeitete ich als Putzfrau und übernahm kleine Arbeiten in Privathaushalten. Mit anderen jungen Leuten übernachtete ich in der Umkleidekabine eines Sportplatzes. Zum Schlafen legten wir unsere Kleider auf den Boden und waren froh über den warmen Ofen. Später erhielt ich ein Zimmer bei einer Frau, für die ich Holz hackte. Im Leben habe ich mit vielen Leuten Glück gehabt. Mit meinen Nachbarn verstehe ich mich auch prima, wir laden uns gegenseitig zu einer Tasse Tee oder Kaffee ein und ratschen über dies und jenes. Kommunikation ist für mich alles. Ich finde es unheimlich wichtig, die Sprache des anderen zu sprechen, da hat man gleich einen ganz anderen Zugang. Anstelle eines Sprachkurses habe ich übers Arbeiten Deutsch gelernt sowie übers Fernsehen, das neben Saubermachen und Aufräumen zu meinen allabendlichen Ritualen gehört.

Einmal klopfen reicht

Das Frauenobdach Karla 51 bietet Frauen für eine befristete Zeit ein Dach über dem Kopf. Wir haben mit einer von ihnen über ihren Weg in die Obdachlosigkeit, ihr Leben im Karla 51 und ihre Hoffnungen für die Zukunft gesprochen.

Text und Fotos
LEON SCHEFFOLD

Frau Weber in der Karla 51

Frau Weber sitzt vor einem Stück Kuchen im dritten Stock des Frauenobdachs Karla 51. Die 62-Jährige trägt einen dicken Wollpulli, darunter ein Hemd. Ihre Brille sitzt auf der Nasenspitze, sie schielt über die Brillengläser auf das Gebäck und teilt es mit einem Messer in zwei Hälften, bevor sie eine davon auf ihren Teller hebt. Von den süßen Sachen kann sie nicht mehr viel essen, sagt sie, „wegen des Zuckers“. Frau Weber ist eine der 55 Frauen, die Unterkunft im Frauenobdach Karla 51 in der Münchner Karlstraße gefunden haben – „ein Riesenglück“, wie sie sagt. Karla 51 ist ein besonderes Haus. Seit 1996 ist es als Frauenobdach mit 55 Einzelzimmern eine Anlaufstelle „für alle Frauen, die Hilfe brauchen“, sagt Frau Speck, die als Sozialarbeiterin im Haus tätig ist. Hilfsbedürftige sind meist Frauen, die von akuter Obdachlosigkeit bedroht sind oder bereits auf der Straße leben. Häufig klopfen aber auch Frauen an die Tür, die Gewalt in ihrer Partnerschaft oder in der Familie erlebt haben. Wenn ein Zimmer frei ist, findet eine Frau, die nach Hilfe sucht, für acht Wochen Obdach im Karla 51. „Die Frauen können ein Einzelzimmer mit einem eigenen Schlüssel beziehen“, sagt Frau Speck, die seit einem Jahr hier arbeitet. „Jede Frau hat Zeit für sich, um einmal durchzuatmen.“ In diesen acht Wochen bekommen sie Unterstützung bei allem, was sie ohne Hilfe nicht schaffen: Arztbesuche, Rechnungen, der Weg zum Jobcenter. Zehn Sozialarbeiterinnen betreuen die Frauen im Haus. „Unsere Arbeit besteht darin, mit den Frauen im selben Tempo zu gehen“, sie also nicht zu überfordern, ihnen die Hilfe nicht aufzuzwingen, so Frau Speck. Die Mithilfe der Frauen ist dennoch eine Voraussetzung für die Zusammenarbeit.

Weiterlesen „Einmal klopfen reicht“

Abschied von einem lieben Kollegen

Ein Text aus der schreibwerkstatt

von Wolfgang „Butzi“ Kurz

Er war einer der besten Kollegen, die ich hatte, fast wie ein Freund. Toni hieß er, und was die Rechtschreibung angeht, war er sehr viel begabter als ich. Seine Kundschaft liebte seine Artikel, auch wenn er nicht so viel schrieb wie ich. Doch seine Artikel blieben den Menschen in Erinnerung. Zum Beispiel der, in dem er über eine Frau schrieb, die er sehr liebte. Oder der, in dem er über den Tod dieser Frau schrieb. Er wollte schon aufhören mit dem Schreiben, aber ich machte ihm vor ein paar Jahren Mut, dass er weitermachen soll. Das tat er auch. Jetzt ist er gestorben, mit 63. Er hatte es am Herzen. Vielleicht hat er den Kummer über den Verlust seiner großen Liebe nie verkraftet. Aber wer weiß es schon, nur der Papa im Himmel! So geh’ hin in Frieden, lieber Toni, und mach’s gut.

Lieblingsplätze

Foto: Volker Derlath

Aktuell verkaufen rund 100 Frauen und Männer regelmäßig die BISS. Die meisten von ihnen bewegen sich im Münchner Stadtgebiet, einige im Landkreis und manche führt ihr Weg sogar ins bayerische Oberland bis nach Rosenheim oder Traunstein. Wir werden immer wieder gefragt, wie das mit den Verkaufsplätzen funktioniert und ob die etwa zugeteilt werden. Eine „offizielle“ Zuteilung, das ist sicher, würde nie funktionieren. Außer am Anfang, wenn jemand ganz neu zu BISS kommt und noch keine Vorstellung davon hat, wo er oder sie verkaufen möchte. Dann schlägt unser Sozialarbeiter einen Platz vor, von dem er weiß, dass der nicht belegt ist. Erfahrungsgemäß dauert es aber nicht lange, bis der oder die „Neue“ eigene Ideen entwickelt, wo es mit dem Verkauf ebenso gut, vielleicht sogar besser laufen könnte. Diese Beweglichkeit, gedanklich und im Handeln, ist einer der wichtigsten positiven Effekte, die den anfangs hilfebedürftigen Menschen Schritt für Schritt aus ihrer Notlage heraushelfen. Natürlich sind es die notwendigen Einnahmen aus dem Zeitungsverkauf, die Einzelfallhilfen und die Unterstützung bei der Suche nach bezahlbarem Wohnraum, die erst einmal im Vordergrund stehen. Und doch, nur so ist Hilfe zur Selbsthilfe möglich, wenn sich der „Bedürftige“ wieder als handelnder Mensch erlebt, der selbst bestimmen kann, wann er was tut und wie lange, oder? Dabei ist gar nicht so die Frage, ob ein Platz per se gut oder schlecht ist für den Verkauf. Langjährige BISS-Verkäufer wissen das am besten, denn sie machen die Orte, an denen sie stehen, erst zu guten Plätzen: BISS-Urgestein Tibor Adamec am Marienplatz, Pietro Dorigo, Pasings bella figura, und Dirk Schuchardt am Stachus, stets bereit für ein Schwätzchen. Nur drei von vielen, die wissen, dass es wie überall gute und weniger gute Tage gibt, selten klagen und sich über besonders gute Zeiten freuen. Plätze wie diese haben ein menschliches Gesicht und Charakter. So wird ein Platz nicht mal einfach von jemand anderem übernommen, wenn ein langjähriger Verkäufer stirbt. Es kann sein, dass eine Lücke bleibt, wie neben dem Kaufhaus Beck, wo früher Pavo Kulas verkaufte, an den ich jedes Mal denke, wenn ich dort vorbeikomme. Noch viel wichtiger als die Plätze sind für das Wohlbefinden und die Integration unserer 100 Verkäuferinnen und Verkäufer diejenigen, die das Magazin bei ihnen kaufen. Lieblingskundschaft sozusagen, freundlich, anerkennend und großzügig. Menschen wie Sie, was könnte es Besseres geben?

Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin